Das Waldstück

Wenn wir Zeit hatten, gingen wir spazieren, abends kurz bevor die Dämmerung einsetzte oder nachmittags am Wochenende. Wir gingen in diese Richtung oder in jene und an der ersten Abzweigung wählten wir neu. Wir kannten alle Straßen nach einiger Zeit, alle Häuser. Wenn die Sonne schien, lag das Dorf in einem Scheinwerferlicht, war der Himmel grau, kam zu dem Eindruck auch eine große Stille hinzu. Zweimal schneite es und der Schnee blieb bis Freitag liegen. Danach warf der zurückgebliebene Streusand Schatten auf den Asphalt.

Am Anfang verliefen wir uns. Manche Straßen endeten auf freiem Feld, manche zogen sich in einem weiten Bogen herum. Aus Sackgassen führten immer schmale Wege, manchmal mit Treppen, um die Niveauunterschiede zu überbrücken, in eine nächste Straße hinein. Ein Teil des Dorfes war hügelig, wir stiegen langsam an, ein Teil war eben, als befänden wir uns auf Flachland. In den zuletzt gebauten Gegenden gab es keine Bürgersteige, Straße und Fußgängerweg, die mit hellen kleinen Steinen gepflastert waren, gingen in eins über, im Unterschied zu dem, selten brüchigen, schwarzen Asphalt in den schon lang existierenden Gebieten. Es wurden auch keine Bäume mehr gepflanzt, im älteren Teil des Dorfes dagegen standen hohe dunkle Laub- und Nadelbäume. Ihr Wachstum war längst abgeschlossen. Ein paar Häuser lagen so in mehrfach gewundenen Kurven, auf Höhen oder hinter dichten Holzzäunen verborgen, dass wir ihre Architektur nicht erkennen konnten, keine Fenster, Eingänge sahen, nur die Größe des Hauses ahnten. Wir sahen das Dach, das sich wie an den Fingerspitzen gegeneinander gedrückte Hände erhob oder wie ein schwerer Deckel weit in das Grundstück hinein erstreckte. Als ob ein Mund zugehalten würde, sagten wir einmal. Vorgarten, Haus, Garage oder überdachter oder mit einem an die Mauer angeschraubten Autokennzeichen benannter Stellplatz für das Auto und einem nicht einsehbaren Garten hinter dem Haus, so war es immer.

Am Anfang, als wir liefen, sagten wir, sieh mal hier, hast du das gesehen, da dieses, und wir wollten nicht stehen bleiben dabei, weil wir nicht wussten, ob uns jemand zusah, ob wir beobachtet wurden, wie wir die Häuser und Vorgärten, hauptsächlich dies, beobachteten. Beobachten ist das passende Wort, denn wir gingen langsam, da wir ja spazierten, und behielten etwas im Blick dabei. Eine Pflanze zum Beispiel oder eine Gardine, einen Zaun, eine Tür, eine Verzierung. Für sich genommen waren es gewöhnliche Pflanzen, Gardinen, Zäune, Türen, Verzierungen, aber wenn wir vorbei gegangen, wenn wir wieder im Zimmer waren, blieb ein Bild in uns, eine Stimmung auch. Wir wollten verstehen und gingen immer wieder in die Straßen.

Die Häuser waren groß, es dauerte an ihnen entlang zu gehen. Jeder Vorgarten war bepflanzt. In dunkler, fett, nahrhaft wirkender Erde steckten Grünpflanzen. Buschige, groß- und kleinblättrige, hoch gewachsene, viel Wintergrün, kaum kahle Zweige. Die geräumigen Leerstellen zwischen den Pflanzen waren unkrautfrei. Ging ein Luftzug, standen die Gewächse unbeweglich. Manche waren bearbeitet, beschnitten, besägt. Aus ihnen war eine Spirale, meistens eine Spirale, geworden. Auch Tropfen-, Kugelformen gab es, aber die Spirale schien die Beliebteste. Immergrün, in sich gedreht, reglos in fester Erde. Oder die Pflanzen waren in einem Muster aufgereiht, einer Schlängellinie, den Weg zur Tür säumend. Die Tür, aus Glas, eine Doppeltür, die sie dann aber doch nicht war, nur eine zweite gleichgroße Glasscheibe, durch die man die Treppe in die erste Etage, vom Dach bedeckt, sah. Die Treppe nach oben, Wendelstufen und dann schnurgerade hinauf, der Blick nach unten frei, an den Seiten mit Blumentöpfen, Puppen beschwert. Oft ein Kranz aus Trockenblumen außen an der Tür hängend. Die Fenster mit Gardinen geschmückt, weiß von oben bis zur Hälfte herabfallend und eine Horizontale schaffend, eine Blende vor dem Dunkel dahinter. Drei Vögel, größer-, kleiner werdend, mit einem langen spitzen Schnabel und einem aufstrebenden Schwanz, alles aus Holz und auf dem Fensterbrett. Oder zwei betende Figuren, auch aus einem Weiß, Keramik vielleicht. Aber das sahen wir nur am Tag, setzte die Dämmerung ein, rasselten die Rollläden herab.

Ein paar Dutzend Reihenhäuser stehen auch im Ort, kurze Abschnitte, zu Schuhschachteln von allen Seiten zusammen geschoben.

In einem Neubaugebiet ist ein Haus mit blauen glänzenden Dachziegeln bedeckt, die auch größer scheinen, als die üblichen rostroten.

Ein Haus ist gelb, hellzitronengelb angestrichen und hat einen schwarzen schmiedeeisernen Zaun davor. Ein-, zweimal gingen wir auf der Landstraße in den nächsten Ort, in dem sonntags ein Café geöffnet hatte. Wir hätten auch eine Abkürzung durch einen Wald nehmen können, an dessen Saum wir entlang gekommen waren. Der Wald war graubraun, er wirkte undurchdringlich am Boden, zu viel Unterholz. Wir fürchteten uns zu verlieren, wir meinten sogar abzukommen vom Weg, wir sagten, das Knistern wird uns irritieren, wer weiß, was darunter ist, und wir müssen hindurch. Obwohl der Wald von außen gut einsehbar war, das Licht war gut, wirkte er in allem wirr, unaufgeräumt, nachlässig. Auch die Farbe gefiel uns nicht. Wir sahen keinen Weg. Ein Wald kann nicht so sein, sagten wir und zogen es vor, weiter auf dem Asphalt zu laufen, was kein Problem war, denn die Autos fuhren im weiten Bogen um uns herum.

© 2005, Roswitha Haring


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