«Innerhalb der Masse herrscht Gleichheit. Sie ist von so fundamentaler Wichtigkeit, dass man den Zustand der Masse geradezu als einen
Zustand absoluter Gleichheit definieren könnte.» schreibt Elias Canetti in «Masse und Macht». Martin Guldimann hat in seinem jüngsten
überdimensionalen Gruppenbild eine homo-gene Gruppe im wörtlichen Sinne geschaffen. Die Grundlage der 6m x 6m grossen Arbeit war ein
Pressefoto, das der Künstler am Computer weiterbearbeitet hat. Dass es sich ursprünglich um ein Foto eines Schwingerfestes gehandelt hat,
ist nicht mehr zu erkennen, denn der Schwingerkönig wurde wegretouchiert und nur die undefinierbare Publikumsmasse ist geblieben. Weissbekappte
uniforme Menschen ohne Geschichte und ohne Gesichter wiederholen sich wie Bausteine nach dem Paste/Copy-Prinzip und lösen sich im
perspektivischen Hintergrund der Komposition in verschwommene amorphe Flächen auf. Hier steigert sich Baudrillards «klonische Melancholie»
tatsächlich ins Unendliche. Schon in seiner Serie von manipulierten Bildern von Menschen in Freizeitsituationen, für die er im vergangenen Jahr
mit einem Anerkennungspreis der Aeschlimann Corti-Stiftung ausgezeichnet wurde, trat die genormte Oberflächenerscheinung einzelner Individuen
klar zutage. Wie in der digitalisierten «Post-Fotografie» von Aziz/Cucher oder Inez van Lamsweerde, die ebenfalls in einer Art malerischem Prozess
neue Bildfindungen am Computer kreieren, geht es Martin Guldimann nicht um eine mimetische Wiedergabe von Menschenkörpern, sondern um
konstruierte Wirklichkeiten, die erschreckend nah an der Realität liegen. Durch die digitale Bearbeitung des Pressefotos, einem alltäglichen harmlosen
Dokument unserer Freizeitgesellschaft, ist ein Portrait von gleichgeschalteten Menschen entstanden, die zu einem faszinierend/bedrohlichen
Über-Individuum zusammengeschmolzen sind.
«Was mich an dem gefundenen Pressebild interessiert hat, ist die Spannung zwischen dem passiven Publikum und den Akteuren.» sagt Martin Guldimann.
Diese Spannung überträgt sich körperlich spürbar auf die KunstkonsumentInnen, die aus ihrer voyeuristischen Rolle gerissen werden, sobald sie den
grossen Hauptsaal der Kunsthalle betreten. In der direkten Konfrontation mit der Publikumsmasse auf der Tribüne, die sich auch ausserhalb der angeschnittenen
Ränder des Bildträgers auszubreiten scheint, wird das Chiasma des Sehens erfahrbar, dass Merleau-Ponty zufolge darin besteht, dass der eigene Körper
zugleich sehend und sichtbar ist. Die Erwartungshaltung der Kunsthallenbesucherinnen verdoppelt sich in der gezeigten Situation: dort hinter einer
Absperrleine sitzt es, das Publikum, aus schwarzen Löchern glotzend.
Was unterscheidet einen Schwingerwettkampf von einem Wettbewerb um ein Kunststipendium? Der Künstler kennt das Spiel der Selbstentblössung
vor einem Publikum nur zu gut. Martin Guldimann hält nicht nur dem angeblich so individualisierten Kunstbetrieb einen entblössenden Spiegel vor.
Sein Suchbild fordert dazu auf, die Rituale und Gruppenzugehörigkeiten der eigenen Monokultur zu überprüfen.
Beate Engel
Erschienen in:
Berner Kunstmitteilungen der Bernischen Kunstgesellschaft, Nr. 322, Nov./Dez. 1999
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