Wir stehen in einem blauen Raum, der sich langsam mit Wasser füllt. Mit einer kräftigen Bewegung gleitet
die Siegerin durchs Wasser an die Oberfläche, um Luft zu holen. Zusammen mit ihr tauchen wir in die Unterwasserwelt ein.
Auf sich allein gestellt schwimmt sie in immer gleichen Bewegungen frontal auf uns zu. Ein anonymer Körper in einer fixen Bahn.
Nach dem gemächlichen Start wird der Bewegungsfluss schneller, die Akustik intensiver. Der Rhythmus steigert sich ins
Übermenschliche, der Kampf ist in vollem Gang. Nur einen Schwimmzug entfernt liegt das Ziel. Bild und Ton vergehen - Applaus erschallt.
Erneut füllt sich der Raum mit blauem Nass. Die Siegerin schwimmt ruhig, gleichmässig, nahezu meditativ in ihrer Bahn.
Der Takt wird nicht mehr von aussen vorgegeben; sie folgt einem eigenen, von ihr selbst bestimmten Rhythmus. Jetzt, wo nicht mehr
die Leistung, nicht mehr der Sieg im Vordergurnd steht, erscheint und die Unterwasserwelt verändert; sinnlich und wohltuend
ruhig. Im sanften Wechsel von Blau zu Weiss verblassen die Konturen der Schwimmerin in milchigem Licht. Momente später
klärt sich das Wasser und wird langsam aus dem blauen Raum abgelassen.
Die Perspektive in Martin Guldimanns Werk ist ungewohnt: Wir befinden uns unter der Wasseroberfläche. Dadurch erhalten
wir konstanten Einblick in den Ort, wo die Athletin sich für den Erfolg verausgabt, aber auch dahin, wo sie Energie tankt
und die Seele baumeln lässt.
In der wettkampfähnlichen Situation bleibt die Schwimmerin trotz der ständigenen Bewegungen am selben Ort,
der Kraftakt ist überhöht. Mit der Steigerung der Geschwindigkeit entsteht ein stroboskopähnlicher Effekt,
der sich durch das Zusammenwirken von Bild und Ton verstärkt.
Ein entspannender Klangteppich führt uns durch die zweiter Sequenz, weckt Assoziationen zur Geborgenheit im mütterlichen
Bauch. Die blaue Umgebung löst sich langsam in inspirierendes Weiss auf. Beim Betrachten des ästhetisch bewegten Bildes
versinken wir in die eigene Gedankenwelt und lassen uns treiben, bis das Wasser verrinnt.
Guldimanns Installation spiegelt grundlegende Bedürfnisse des Menschen wider und verweist auf die eigene Existenz. Die künstlerische
Umsetzung spielt sich im Wasser ab, einem Element, das für den Menschen ambivalent, sowohl notwendig als auch bedrohlich ist. Die
Frage nach Sieg - nach Anerkennung in der Öffentlichkeit - stellt sich in der Kunst genauso wie im Sport. Man wird von innen und
aussen angetrieben, mit den eigenen Wünschen und Grenzen konfrontiert. Doch der Erfolg ist nur die eine Seite der Medaille. Um den
Sieg zu erlangen, braucht es auch Phasen der Erholung, Inspiration und Rückbesinnung auf sich selbst.
Zwölf Abbildungen einer Siegerin aus einem Schwimmlehrbuch lieferten Guldimann das Ausgangsmaterial für seine Arbeit.
Sie zeigen Kirstin Otto, die 1988 an den Olympischen Spielen in Seoul sechs Goldmedaillen für die DDR erkämpfte. Doch das
ist für ihn nicht zentral. In einem anderen Werk blendet Guldimann die Athleten - die eigentliche Hauptperson - aus und stellt das
Publikum eines Schwinger- und Älplerfestes, eines typisch eidgenössischen Sportereignisses, in den Mittelpunkt. Die Zuschauer
blicken dem Betrachter von einer grossformatigen, leicht verschwommenen Fotografie entgegen. Die Frage, wer nun wen anschaut, bleibt
ungeklärt im Raum.
Guldimann beobachtet den Menschen in seinen jeweiligen Rollen genau. Für seine Arbeiten verändert er bestehende Bilder
und anonymisiert die Akteure. Paradoxerweise fühlen wir uns ihnen deshalb so nah.
Vanessa Achermann
Erschienen im Ausstellungskatalog «Speed up», Grenzerfahrungen im Sport und in
der zeitgenössischen Kunst, 2004, Schwabe AG, Verlag, Basel; ISBN 3-7965-2124-X
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